Sunday, May 29, 2005

RADIO: Von wahrer Freundschaft, heiliger Tradition und unerschöpflicher Gastfreundschaft im Kaukasus

Manuskript gesendet April/2004 auf dem SWR
von Ralph Hälbig

Gia war auf der Flucht. Einst wurde sein Freund für den Tod eines anderen festgenommen. Gia nahm die Schuld auf sich und versteckte sich in den Bergen. Hier wurde er geboren, hier lebt heute noch ein Teil seiner Familie, und hier blieb Gia, ständig auf der Flucht. Die Polizei wusste, dass er hier steckte. Die Häscher sahen darüber hinweg, wenn er an hohen Feiertagen oder zu Familienfesten zu seiner Frau und seinen Kindern ins Tal ging – hier, in Tuschetien, ist es undenkbar, dass ein Mann bei solchen Anlässen fernbleibt. Zudem waren sich die Polizisten sicher, dass Gia danach wieder in die Berge zurückgeht – für einen Ehrenmann versteht sich das von selbst. Heute kann sich Gia halbwegs frei bewegen, seine Schuld ist sozusagen abgebüßt.
Es gibt in Georgien kaum einen besseren Ort als Tuschetien für eine solche Flucht. Der höchste Punkt der Region im Nordosten der Kaukasusrepublik liegt auf 4500 Metern, der niedrigste immer noch in 1600 Meter Höhe. Die Flüsse heißen hier schon mal Tschan-tscha-chow-nisz-kali, die Straßen Zchwris-Chorchi, was selbst für georgische Ohren einigermaßen fremdartig klingt. Die Menschen leben hier als Bauern und Hirten, die ihre Schafe vor Hyänen, Bären und Wölfen schützen. Es gibt einige wilde Ecken in Georgien, aber Tuschetien ist diejenige, wo die althergebrachte Lebensweise beinahe ursprünglich ist. 12 Jahre lang ist hier Gia von Dorf zu Dorf gezogen, von einem Verwandten zum nächsten Freund, Ehrensache für alle, die ihm halfen – so will es die Tradition. .

Von seiner eigenen Geschichte macht der Mann nicht viel Aufhebens, aber wenn es um sein Land geht, kommt er ins Schwärmen. Die Tuschen sind zwar Georgier, haben aber ihren eigenen Dialekt und eine eigene regionale Kultur. Omalo heißt der Hauptort der Gegend; Alt-Omalo ist immer noch ein Dorf mit kompakten Häusern aus Schiefern und engen Gassen, das sich in den Bergen duckt. Oder Dartlo, von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.

1 comment:

Hans said...

Tuschetien ist ein Traum !
Glücklich der, der dort gewesen ist.

Heiner