Tuesday, July 13, 2010

PHOTOREPORTAGE: Das gefährliches Erbe von Saloglu. Von André Widmer

ASERBAIDSCHAN: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sprengte die Rote Armee auf ihrem Rückzug im Kaukasus eine riesige Munitionsbasis in die Luft – noch heute sind die Folgen verheerend.

Die Gefahr lauert draussen auf den Feldern, etwas abseits des kleinen Dorfes Saloglu. Die Ortschaft liegt im aserbaidschanischen Hinterland. Dort, wo die Landschaft immer karger wird und kaum ein Baum steht, warnen Schilder mit Totenkopfsymbolen die Menschen vor dem drohenden Unheil im Boden. Schafherden ziehen umher auf der Suche nach ein paar Grashalmen. Ein paar Meter neben den gutmütig dreinschauenden Tieren stecken verrostete Raketen kopfüber in der Erde. Über 100 Menschen wurden über die Jahre hier schon zu Opfern – viele davon starben. Schuld daran sind die Überbleibsel einer ehemaligen sowjetischen Munitionsbasis. Nun ist die staatliche aserbaidschanische Minenräumungsgesellschaft Anama daran, die Gegend zu räumen – ohne finanzielle Hilfe Russlands, des Nachfolgestaates des Urhebers UdSSR.

"Ich dachte, es sei Aluminium"

Auf dem rechten Auge sieht Metleb Nasibov nichts mehr. Das Augenlid bleibt geschlossen. Im Gesicht ist eine weitere längliche Narbe zu sehen. Metleb krempelt den Ärmel des Hemdes zurück; eine weitere Wunde kommt zum Vorschein, am linken Unterarm hat er eine grossflächige Einbuchtung. Metleb ist es eines der vielen Opfer, die die gefährliche sowjetische Hinterlassenschaft gefordert hat. Metleb Nasibov trägt einen einfachen Anzug. Er sitzt an einen Tisch, nebenan läuft der Fernseher. Es wird Tee gereicht, das Nationalgetränk in Aserbaidschan. Metleb will sich nicht fotografieren lassen, dennoch erzählt er von seinem persönlichen Schicksal. Anfangs der Neunziger Jahre diente er in der aserbaidschanischen Armee. Es waren keine einfachen Zeiten. In allen ehemaligen Sowjetrepubliken gestaltete sich das Leben hart. Lebensmittel waren knapp. Auch die politische Lage im Kaukasus war schwierig. Ab 1992 weitete sich der Konflikt um Nagorno-Karabach zum Krieg aus. Erst 1994 konnte ein Waffenstillstand unterschrieben. In der Zwischenzeit war Metleb Vater von zwei Kindern geworden. Als er 1996 aus der Armee ausschied, schlug er sich zunächst mit diversen Jobs durch. Und wurde dann schliesslich arbeitslos. Wie viele andere begann er, in der Region Saloglu Metall einzusammeln und weiter zu verkaufen. Es lag schliesslich offen herum auf den Feldern.

Auch an einem Morgen Ende Sommer 1998 verliess Metleb Nasibov wieder sein Haus, um Metall einzusammeln. Sein Heim liegt nur ein paar Hundert Meter von den Feldern entfernt. An diesem Morgen fand er ein besonderes Metallstück. Ein längliches Stück, ein Rohr. „Ich dachte, es sei Aluminium“, so Metleb. Wieder zu Hause, versuchte er es zu öffnen. Schliesslich sollte das Metall von anderem Material gesäubert sein, geputzt werden. In diesem Moment explodierte es. Vom Knall aufgeschreckt, eilte die Familie hinter das Haus. Dort fanden sie Metleb, Vater und Ehemann. Schwer verwundet, das Gesicht, beide Beine, ein Arm, waren verletzt. Verwandte fuhren ihn ins nächste Spital in die Provinzhauptstadt Agstafa. Nach nur einem Tag musste er weiter nach Baku verlegt werden. Der Aufenthalt in der Klinik dort dauerte einen Monat. Wenigstens zahlte die Armee ihrem jungen Veteranen 50 Prozent an die medizinischen Massnahmen, obwohl sich der Unfall ausserhalb des Militärdienstes ereignete. Metleb Nasibov: Eine nicht ganz untypische Lebensgeschichte eines Mannes in der Region Saloglu.

Die Gebäude der Minenräumungsgesellschaft Anama in Saloglu liegen in Sichtweite des ehemaligen sowjetische Munitionsdepot. Verlassene Wachtürme und einsturzgefährdete Dächer sind dort zu sehen. Der Drahtzaun ums ehemalige Armeegelände rostet vor sich hin, die Betonpfosten sind schief. Das Betreten der Anlage ist verboten. Neben den Gebäuden liegen die Felder, dort wo das gefährliche Vermächtnis der Sowjets liegt. Über dem Boden befindliche Blindgänger hat man fast alle geräumt. Das ganze Gelände ist zwei Zonen unterschiedlichen Räumungsgrades eingeteilt, 19 an der Zahl.

Wie bösartige Wucherungen unter der Haut

Die heutige Autofahrt führt in einen entfernteren Sektor. Mahdat Mammudov ,der Supervisor, und seine Männer arbeiten im Sektor 17. Sie sind daran, den Boden bis in eine Tiefe von 30 Zentimetern zu entminen. Streifenweise. Etwas Humus abgetragen, kommen die verrosteten Blindgänger zum Vorschein. Es ist, wie wenn man Haut aufkratzt und darunter bösartige Wucherungen entdeckt. In diesem Sektor wurden 23 Bunker gezählt, fünf davon noch voll gefüllt. Wenn die Blindgänger noch Zünder enthalten, sprengt man sie vor Ort. Ansonsten wird das Material eingesammelt und zum Sprengungsgelände gebracht. In Sektor 17 wurden auf 90 000 Quadratmetern rund 7090 Blindgänger gehoben. Weiter hinten im Gelände liegen noch offen Granaten herum.

Mit dem Jeep geht es weiter, vorbei an der ehemaligen Sowjetbasis, mit Kurs auf eine Anhöhe hinter der Basis. Kurz nach der Basis ein Feld. Eine Begleitperson weist auf das Feld hin: „Dort, wo die gelben Pflöcke stehen, ist die Pipeline im Boden“, sagt ein Mitfahrer. Nicht nur die Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan, welche ein zentraler Faktor im „Great Game“ um die kaspischen Erdölvorkommen eine Rolle spielt, durchquert die Region hier. Auch die Gasleitung Baku-Tiflis-Erdurum und die Ölpipeline Baku-Supsa führen durch die Gegend. Dann erreichen wir das Sprenggelände. „Yandirma Arizisi“ und „Burning Area“ steht auf einem verbeulten Schild. Ein paar Meter weiter ist das Gelände übersät mit Kratern. Detonationskatern. Es ist eine wüstenähnliche Gegend. Eine 15 Männer umfassende Sprengtruppe arbeitet hier. Tags darauf wird die wöchentliche Sprengung der Blindgänger stattfinden. In einem drei Meter tiefen Loch liegt die sorgfältig präparierte, alte Munition. Rund 10 000 Projektile, insgesamt 1,8 Tonnen sollen diese Woche in die Luft gejagt werden. Ganz unten in der Grube liegen die kleinkalibrigen Projektile, darauf sind die grösseren Geschosse deponiert. Zwei Schichten, wie bei einer Torte. Für die Sprengungen wird TNT benutzt.

Am kommenden Tag scheint wieder die Sonne. Die letzten Vorbereitungen im Sprengungsgelände sind im Gange. Von den vier umliegenden Anhöhen führen je neun Kabel in die Senke. Das Gelände wird geräumt, der Mannschaftswagen zieht ab. Ein Mann observiert vom Dach des Übersichtsbunkers aus noch die Umgebung. Vor kurzem hätten noch ein paar Ingenieure in der näheren Umgebung gearbeitet. Jetzt ist das Areal menschenleer. Alle in den Bunker, richten sich die Augen sind auf das einen Kilometer entfernte, frisch zugeschüttete Loch. Dann ein gewaltiger Knall, es folgt die Druckwelle. Die Detonation hat vorzüglich geklappt. Das Gelände wird noch weitere 24 Stunden überwacht und nicht betreten, da Nachfolgeexplosionen möglich sind.

Abends, zurück auf der Basis. Am Eingangstor steigen auch die Minenräumer aus den Fahrzeugen, es ist Arbeitsschluss. Am Tor steht auch Metleb Nasibov, das Blindgängeropfer. Er hat wieder einen Job, er sorgt jetzt für den Unterhalt auf der Anama-Basis. Es gibt noch viel zu tun in Saloglu.

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Im Transportkorridor des "great game"

Von André Widmer

Saloglu liegt zentral im Kaukasus, im Dreiländereck nahe den Grenzen zu Georgien und Armenien. Das Dorf befindet sich in einer flachen Tiefebene. 1937 hatte in Saloglu die rote Armee eine Basis mit dem grössten Munitionsdepot im Transkaukasus errichtet. Lange Zeit war das Gelände militärisches Sperrgebiet, all die Jahrzehnte wusste die Zivilbevölkerung kaum Bescheid darüber, was hinter den Drahtzäunen geschieht. Im August 1991, als der Konflikt um Nagorno-Karabach zwischen Armeniern und Aserbaidschanern eskalierte und die Republiken ihre Unabhängigkeit ausgerufen haben, zogen die Sowjets plötzlich ab. Die Menge der gelagerten Munition im Depot war riesig. Viel zu gross, als dass man sie auf einmal hätte wegtransportieren zu können. Also griff die Armee zu einer unkonventionellen wie verheerenden Massnahme: Sie sprengte die 138 Bunker, in der die explosive Ware lagerte, einfach in die Luft. Nach den Detonationen waren in Saloglu und Umgebung schliesslich 4400 Hektaren übersät mit Projektilen unterschiedlicher Grösse, von Handgranaten über Geschossen bis zu Raketen. Doch nicht über der Erde, auch unter der Oberfläche befinden sich jetzt die Blindgänger.

Saloglus günstige geografische Lage im Dreiländereck wirkte sich Anfang des neuen Jahrzehnts aus. Die Gegend wurde zum Transitkorridor. 2004 begannen die Arbeiten zum Bau der Ölpipeline Baku-Tiflis-Ceyhan. Das brachte die staatliche Minenräumungsgesellschaft Anama in die Region Agstafa. Ihr oblag es, auf einer Länge von 32 Kilometern einen rund 50 Meter breiten Streifen bis in eine Tiefe von 3 Metern von Blindgängern zu säubern. Die Rohre sollten einen Meter unter den Boden, um Anschläge zu verhindern. An einer Stelle grenzte die vorgesehene Pipelineroute nur wenige Meter an das Gelände der vormalig sowjetischen Munitionsbasis. Rund 120 Projektile wurden damals im geplanten Pipelinebereich gehoben. Anama verblieb schliesslich in der Region. Im Dezember 2005 startete die Organisation unter der Aufsicht von Uno und Nato mit der Blindgängerräumung des Areals in und um die Basis. Längst handelte es sich beim sowjetischen Erbe um eine humanitäre Katastrophe. Auch ökologische Gefahren entstanden. Die alte Munition, die vielen Blindgänger, fingen an zu rosten. Einige enthalten weissen Phosphor. Ein perfides Material, das hochgiftig ist und eine tödliche Wirkung entfalten kann.


Das Ausmass der Dekontaminierung ist weiterhin riesig, bisher wurden fast 550 000 Blindgänger auf den 44 Quadratkilometern weggeräumt; 7082 mit weissem Phosphor. 250 verschiedene Munitionsarten sind es total, die identifiziert wurden. Inzwischen hat Anama eine Basis errichtet und beschäftigt um die 70 Angestellte, das meiste sind Minenräumer im Feld. Der Rest arbeitet in Administration, in der Küche oder im Unterhalt. Leute aus der Gegend haben Arbeit bei Anama gefunden.

Photoreportage: André Widmer (slideshow) >>>

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