Thursday, August 12, 2010

ARTIKEL: Die Geisterstadt im Niemandsland (20min.ch)

von André Widmer, Stepanakert - Einst lebten gegen 50 000 Personen in Agdam. Dann eskalierte der Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschanern im Berg-Karabach. Geblieben sind eine Geisterstadt und eine Moschee. Ein Besuch.

Bildergalerie >>>

Ausgerechnet dort, wo kein Fremder etwas zu suchen hat, steht ein Schild mit der Aufschrift «Bon Voyage». Das ist ausgangs Askeran, einer Ortschaft im völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden, aber armenisch besetzten Karabach. Von hier führt die Hauptstrasse in unbesiedeltes Niemandsland, in militärisches Sperrgebiet. Die Fahrt hatte in Stepanakert begonnen, der Hauptstadt der international nicht anerkannten Republik Nagorno-Karabach, vorbei an zwei Militärbasen der Sezessionsarmee. «Ich riskiere eine Verhaftung», hält Taxifahrer Robert fest. Doch für harte Dollars fährt er.

In der Ferne ist eine Eisenbahnbrücke zu sehen, kurz darauf ein muslimischer Friedhof. Dann ist die Stadt Agdam erreicht – beziehungsweise das, was von ihr übrig geblieben ist. Bis 1993 lebten hier noch gegen 50 000 Menschen, fast ausschliesslich Aserbaidschaner. Heute ist Agdam verlassen, eine Geisterstadt - eine Folge des Kriegs um Karabach. Ein paar Kilometer hinter der Stadt befindet sich die Demarkationslinie zu Aserbaidschan. Topfeben ist die Region hier, und die Aussicht ist ernüchternd: Ruinen, wohin das Auge reicht, Gebäude ohne Dächer, zerbröckelnde Grundmauern. Die Strassen sind nur noch Holperpisten. Agdam: Verlassen, zerstört und geplündert.

Alles Brauchbare wird gestohlen

Es war der 23. Juli 1993, als die Stadt Agdam nach lang anhaltendem Beschuss fiel und ihre aserbaidschanische Bevölkerung angesichts des bevorstehenden Vorrückens des karabacharmenischen Militärs floh. Die Einnahme Agdams wurde von der siegreichen Seite damit begründet, dass von ihr aus Artilleriebeschuss in Richtung Askeran und Stepanakert erfolgt sei. Denn Agdam liegt strategisch günstig; am Ende eines Tals. Nach der Eroberung der Stadt folgte, was im Karabachkrieg üblich war: Alles Brauchbare wurde gestohlen, dann wurden die Häuser angezündet.

Die Organisation Human Rights Watch berichtet in ihrem Report, der beide Seiten, vor allem aber die Karabacharmenier für ihre Kriegsverbrechen geisselt, von einer «unnötigen Zerstörung» Agdams nach der Einnahme. Ein OSZE-Vertreter äusserte sich gar dahingehend, dass die Verwüstung der Stadt nicht das Resultat von Aktionen undisziplinierter Soldaten war, sondern «ein wohl orchestrierter Plan» der sezessionistischen Führungsriege vorgelegen haben muss. Auf gewissen armenischen Strassenkarten ist heute der Name Agdam nicht mehr zu finden, sondern nur noch eine Verzweigung eingezeichnet.

Robert fährt mit seinem Taxi langsam durch die Ruinenlandschaft. In einer Strasse ist ein jeepähnliches Gefährt zu sehen. Angst vor der «Militija», einer Kontrolle, kommt auf. Bloss nicht anhalten, und schnell die verdunkelten Fenster raufkurbeln. Gelegentlich durchqueren Fahrzeuge Agdam. So gelangen Leute von einer armenischen Siedlung zur anderen. Diesen Anschein möchte Robert bewahren. Deshalb kommt auch ein Besuch des einzigen Gebäudes mit unversehrtem Dach nicht in Frage: der Moschee. Ein Blick aus der Ferne muss genügen. Wie ein Mahnmal ragt das muslimische Gotteshaus aus der Ruinenlandschaft empor, äusserlich verschont von den Brandschatzungen der armenischen Soldaten (Aserbaidschaner sind grossmehrheitlich Muslime, die Armenier Christen).

Doch selbst jetzt, 16 Jahre nach Unterzeichnung des Waffenstillstandes, gehen die Plünderungen der Besatzer in Agdam weiter. Ein Metallhändler hat sich in der Stadt eingerichtet, ein ganzes Areal ist mit gesammeltem Schrott übersät. Entlang der Strassen sind Gräben ausgehoben, die Wasserleitungen wurden zur Weiterverwendung entfernt. In einer Seitenstrasse ist ein Baumaterialtransporter zu sehen; Backsteine sind ein anderes, beliebtes Gut.

Die Regierung der Sezessionsrepublik unternimmt nichts gegen die Plünderung Agdams. «Die militärische Aggression Aserbaidschans hat die gesamte Infrastruktur in Nagorno-Karabach zerstört», sagt der offizielle Repräsentant Karabachs in Washington, Robert Avetisyan. Agdam habe aufgrund der aserbaidschanischen Artillerieposten leiden müssen, dafür seien die Aserbaidschaner selber verantwortlich. «Das Einsammeln von Metall und Baumaterial lässt sich durch den Wiederaufbau der armenischen Siedlungen in unserer Republik begründen, die von den Aserbaidschanern zerstört wurden.» Diese von Privaten ausgeführten Aktionen seien nicht systematisch organisiert und extrem schlecht zu überwachen, erklärt Avetisyan weiter. Und schliesslich betrachte Karabach diese einst als «Sicherheitsgürtel» besetzten aserbaidschanischen Provinzen mittlerweile als integralen Bestandteil seines Territoriums.

Der Aufschwung lässt auf sich warten

Die latente Gefahr eines Beschusses hält die Armenier vermutlich auch davon ab, Agdam zu besiedeln. Jahre nach Kriegsende sind nur in der Hauptstadt Stepanakert und in einigen Orten Zentralkarabachs ein kleiner Aufschwung und eine Art Normalität spürbar. Viel Augenmerk wurde auch auf den Bau und die Renovation der armenisch-orthodoxen Kirchen in der Bergrepublik gelegt – ein probates Mittel, um Identität zu stiften und den Anspruch auf Karabach zu untermauern. Aserbaidschan sieht in diesem Vorgehen und der Zerstörung der Infrastruktur ein System und wirft den Besatzern vor, die Spuren der geschichtlichen Vergangenheit verwischen zu wollen. «Die Aktionen der armenischen Seite schädigen das kulturelle Erbe Aserbaidschans», sagt Elkhan Polukhov, Pressesprecher des aserbaidschanischen Aussenministeriums dazu.

Langsam geht die Fahrt durch Agdam zu Ende. Ein einsamer Viehhirte treibt seine Herde mit Kühen, Schafen und Ziegen durch die Strassen der einstigen Stadt. Vorbei an Autowracks, verrosteten Fässern und bizarr anmutenden Betonsäulen. Das einzige Brotmuseum der gesamten ehemaligen Sowjetunion ist nur noch durch die beiden beschädigten Wandreliefs erkennbar. Im Innern wächst ein Baum. Wie im ehemaligen Brotmuseum erobert die Natur langsam die ganze Stadt zurück. Agdam, des pulsierenden Lebens der Zivilisation, der kulturellen Güter und der Infrastruktur beraubt, ist zu einem einsamen, gespenstischen Ort im Niemandsland geworden.

+++

Berg-Karabach-Konflikt

Der Konflikt um den «gebirgigen, schwarzen Garten», wie das fruchtbare Nagorno-Karabach übersetzt heisst, sorgte für die grösste ethnische Vertreibung im Kaukasus seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach der Unabhängigkeitserklärung Armeniens und Aserbaidschans 1991 erklärte im selben Jahr auch die armenische Bevölkerungsmehrheit des auf aserbaidschanischem Gebiet liegenden Autonomen Gebiets Nagorno-Karabach die vollständige Unabhängigkeit. Daraufhin entbrannte ein blutiger Krieg zwischen den Paramilitärs der mehrheitlich christlichen Karabacharmenier und der Armee der muslimisch geprägten Aserbaidschaner. Schätzungsweise 30 000 Tote forderten die bewaffneten Auseinandersetzungen bis 1994. Die siegreichen Karabacharmenier besetzten anschliessend nicht nur Nagorno-Karabach, sondern sieben weitere aserbaidschanische Bezirke, die ausserhalb des früheren Autonomen Gebietes liegen und fast ausschliesslich von Aserbaidschanern bewohnt waren. Insgesamt flüchteten etwa 586 000 Aserbaidschaner aus Karabach und den umliegenden Bezirken, und etwa 300 000 aus Armenien. Im Gegenzug flohen etwa 360 000 Armenier aus Aserbaidschan. Heute leben nur noch ungefähr 150 000 Armenier in Karabach. Aserbadschaner gibt es dort keine mehr. André Widmer

No comments: