Thursday, May 10, 2012

INTERVIEW: Stepan Grigorjan beschreibt die armenische Sicht auf den "eingefrorenen" Konflikt (ag-friedensforschung.de)

(ag-friedensforschung.de) Es gibt keine schnelle Lösung für das Karabach-Problem

Stepan Grigorjan ist Vorstandsvorsitzender des Analysezentrums für Globalisierung und Regionale Kooperation (ACGRC), einer Denkfabrik in Armeniens Hauptstadt Jerewan. Der promovierte Physiker war bis 2002 Berater des armenischen Außenministeriums, davor Abgeordneter der Nationalversammlung. »nd« sprach mit ihm über die armenische Sicht auf den Konflikt um Berg-Karabach. Die Fragen stellte für das "neue deutschland" (nd) Franz Altmann.

nd: Welche Position beziehen Armenien und die international nicht anerkannte Republik Berg- Karabach in diesem Konflikt?

Berg-Karabachs Position ist eindeutig: Sie wollen nicht mit Aserbaidshan zusammenleben. Sie wollen Autonomie und eine Republik. Eine Konföderation, in welcher Konstellation auch immer, kommt für die Regierung in Stepanakert nicht in Frage. Darin ist sie sich mit 100 Prozent der Bevölkerung Karabachs einig. Die Position der Regierung Armeniens ist ein bisschen weicher: Jerewan befürwortet, dass die Verhandlungen weitergeführt werden und ein Kompromiss gesucht wird. Die Regierung zeigt sich offen, über alle Varianten zu sprechen. Allerdings besteht Jerewan auf zwei Punkten: einem Korridor nach Berg-Karabach und einem Sicherheitssystem um Berg-Karabach herum. Prinzipiell ist Jerewan aber bereit, über fünf der sieben Territorien, die an Berg-Karabach grenzen und derzeit von Armenien kontrolliert werden, zu verhandeln. Unsere Regierung ist in dieser Frage realistisch, im Gegensatz zu Großteilen der Bevölkerung, die der Meinung sind, wir müssten diese Gebiete nicht zurückgeben. Armenien wird Teile dieser Gebiete zurückgeben, wenn Aserbaidshan Berg-Karabachs Unabhängigkeit anerkennt oder einem Unabhängigkeitsreferendum in Berg-Karabach zustimmt.

Inwieweit ist Berg-Karabach von Armenien tatsächlich unabhängig?

Berg-Karabach hat eine gewisse Autonomie von Armenien, auch wenn beide generell in den meisten Punkten sehr eng miteinander verknüpft sind. Nur im Verhandlungsprozess, der von der Minsker Gruppe der OSZE geleitet wird, hat Stepanakert eine andere Position als Jerewan. Armenien und Aserbaidshan sind Mitglieder in der Minsker Gruppe, Berg-Karabachs Interessen werden von der armenischen Delegation vertreten. Armenien kann dort keine gültigen Entscheidungen treffen, ohne dass Stepanakert dem zustimmt. Berg- Karabachs Einfluss auf Armenien ist in diesem Punkt sehr stark.

Ist es in Armenien politisch korrekt, die Gebiete, die formell auf aserbaidshanischem Territorium liegen, aber von Armenien kontrolliert werden, als besetzte Gebiete zu bezeichnen?

Aserbaidshan spricht von besetzten Gebieten. Armenier sagen dagegen: Historisch gesehen sind das unsere Gebiete. Aus armenischer Sicht ist es ein Rekonstruktionsprozess. Übrigens werden diese Territorien offiziell von der lokalen Armee Berg-Karabachs kontrolliert. Jerewan sagt: »Wir helfen Berg-Karabachs Armee.« Aber in Wirklichkeit sind die Militäreinheiten dort natürlich gemischt.

Wie sieht Armenien die großen internationalen Spieler im Karabach- Konflikt: die USA, die EU und Russland?

Die Situation kann sich sehr schnell ändern. Doch im Moment wollen die USA, die EU und Russland den Karabach-Konflikt lösen. Alle drei haben eine positive Einstellung. Und alle drei stimmen in einem Punkt überein: Der Karabach- Konflikt kann nicht schnell gelöst werden. Russland ist zögerlich, weil nicht klar ist, was nach dem Ende des Konflikts passieren wird. Vielleicht treten Armenien und Aserbaidshan der EU bei und Russland verliert an Einfluss? Die USA und die EU auf der anderen Seite verstehen, dass Armeniens und Aserbaidshans Positionen sehr gegensätzlich sind.

In Berg-Karabach denkt man nicht in solch globalen Dimensionen. Stepanakert ist auf die Unabhängigkeit fixiert. Im armenischen Mutterland verstehen alle Russlands Rolle. Aber die Armenier erinnern sich auch daran, dass Russland 1918 bis 1921 die Probleme im Südkaukasus dadurch löste, dass es armenische Gebiete an die Türkei und an Aserbaidshan abgab. Aus unserer Perspektive beweist das, dass Russland auch antiarmenisch handeln kann. Heutzutage überdenken Armenier die alten Paradigmen, wonach Russland gut und die Türkei böse ist. Sie verstehen, dass wir auch andere Spieler im Südkaukasus brauchen, wie etwa die EU oder die Vereinten Nationen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass der Karabach-Konflikt überhaupt gelöst wird?

Hier nur ein Beispiel für ein mögliches Zukunftsszenario: Aserbaidshan akzeptiert Berg-Karabachs Unabhängigkeit nicht, aber de facto ist Berg-Karabach unabhängig. An einem bestimmten Punkt treten Aserbaidshan und Armenien der EU bei. In der EU ist die Frage der Grenzen dann eine andere. Aber bis es soweit ist, brauchen Armenien und Aserbaidshan noch Zeit, um zu kooperieren.

* Aus: neues deutschland, 17. November 2011

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