Wednesday, December 18, 2013

ESSAYFILM: "Zuschauerräume" (Spectator Spaces). Ein Film über Giwi Margwelaschwili von Marika Lapauri-Burk und Niko Tarielaschwili (youtube.com)


 
(youtube.com) Veröffentlicht am 17.12.2013

Ein Film von
Marika Lapauri-Burk und Niko Tarielaschwili
Idee, Konzept: Marika Lapauri-Burk
Szenenbild, Foto: Gia Lapauri
Musik: Dato Malazonia
Redaktion: Marika Lapauri-Burk, Dr. Frank Tremmel
Kamera: Niko Tarielaschwili
Toningenieur: Iwane Gvaradze
Schnitt: Niko Tarielaschwili, Marika Lapauri-Burk
Produzenten: Marika Lapauri-Burk, Niko Tarielaschwili

Darsteller:
König, Gottfried, Graf Rehlen, Zweiter Offizier: Giwi Margwelaschwili
von Ramesin: Data Lapauri
Erpich: Giorgi Djibladze
Herzog: Lado Kalandadze
Herzogin: Lile Pilpani
Dornrose: Nini Lapauri

The essay film Spectator Spaces

from Marika Lapauri and Niko Tarielashvili shows the attempt to resolve the involvement of the people in stories and history. It lets the audience, participate in a trans-historical experiment. With the help of archival footage and staged movie sequences the two directors arrange the legendary German-Georgian writer's and philosopher's Givi Margvelashvili, author of the play of the same name and also the conceptual main protagonist of the film, kaleidoscopic insight into the possibilities and limits of an utopia. The focus of the actual events are the places of doom, such as theater, parliaments, conference rooms, of which history has its origin, and the attempt to wipe out the topography of the dramatic and narrative entanglements. The outcropping while at the same time perplexities of this historical and anti-historical actions affect not only disillusioning, but also open a reflexive access to a sense of space, which rises in the futility of the story about the historical period.

Deutschland/Georgien 2013, 50 Min. HD 1920/1080P 25fps sound stereo mix

Text: von Jana Papenbroock 

+++

Der Essayfilm von Lapauri und Tarielaschwili ist das Ergebnis ihrer vier Jahre währenden Beschäftigung mit Giwi Margwelaschwili und seinem Stück, die die Regisseure an die unterschiedlichsten Orte geführt hat. Orte, an denen das Vergangene und das Gegenwärtige wie übereinander projiziert erscheinen: Archive, Ruinen, verlassene Bibliotheken, Kinos, Rudimente von Räumen, in denen die Gespenster der Geschichte wirken. Der Film über Margwelaschwilis Stück ist ein Projekt über Geschichte und Geschichtsschreibung, über deren performative und narrative Voraussetzungen. Er ist ein offenes Werk, das sich mit den Mitteln der Multiperspektivität und mit diversen Film- und Videomaterialien auf die Suche nach den räumlichen und zeitlichen Kontinuen begibt, die Geschichte konstituieren und von denen Margwelaschwili erzählt. Es geht um die Sichtbarmachung eines blinden Flecks, der Stelle, an der wir selbst stehen, bereits im Bilde und in der Geschichte sind, aber uns stets unserer Verantwortung freisprechen. Es ist die unsichtbare Stelle des Zuschauers und die Unsichtbarkeit seiner Macht, die sich durch sein unbewusstes Begehren herstellt.

Immerzu sitzen wir im Theater- oder Kinosaal der Welt und schauen ihrem Spektakel und oftmals scheußlichen Treiben zu, ohne Stellung zu beziehen. Stets verschieben wir die Verantwortung auf die Anderen, das System, die Bedingungen. Margwelaschwili kehrt den Spiegel um und richtet das Licht auf die Sitzreihen, damit wir uns erblicken können, uns ein wenig unbequem zumute wird und wir über unsere Situation nachdenken können. "Zuschauerräume" wagt ein Gedankenexperiment: Wenn alle Topographien der Macht, Manipulation und Beherrschung, alle Räume also, die Geschichte produzieren, abgeschafft wären, müssten wir dann nicht in Frieden leben? In einem unbeobachteten Paradies, in dem wir vereint mit der Natur, einander wohlgesonnen und absichtslos existieren könnten. Die Umsetzung des Experiments bedarf  jedoch der Gewalt und der  Zerstörung von Kultur und Geschichte. Dass das nicht gut gehen kann, ahnen wir ziemlich schnell, wenn wir uns die unzählbaren Zerstörungen des vorigen Jahrtausends ins Gedächtnis zurückrufen. Das Stück klärt uns auf über die Gefahren des Terrors im Namen der transhistorischen Utopie. Es zeigt zugleich aber auch fortwährend die gewaltsame Borniertheit der bisherigen Geschichte. Margwelaschwili öffnet so den Raum der gedanklichen Kontextualisierung, in dem wir uns unserer Verantwortung als Akteure bewusst werden und in dem allein unsere Verstrickungen sich auflösen lassen.

Immer wieder sehen wir im Film eine weiße Leinwand, sehen wir Margwelaschwili lesen, Zuschauer schauen, Episoden aus den Archivmaterialien und Inszenierungen auf der Leinwand im Bild flimmern, die uns für den Raum sensibilisieren, von dem aus wir selbst projizieren, und der uns wiederum als Zuschauer produziert. Warum wollen wir unbedingt immer wieder das Eine, eine packende, gewalttätige Geschichte, sehen und können wir auch Anderes sehen wollen lernen? Der Film selbst ist eine materielle Antwort auf die Frage, in dem er die Möglichkeit eines glücklichen Todes überholter Signifikanten der Macht vorführt, einen Film wagt, der ohne Drama, ohne Mord und Totschlag, der Stimme eines Schriftstellers zuhört, der ganz einfach etwas zu sagen hat. Mit äußerster Behutsamkeit rekonstruiert der Film wie eine experimentelle, audio-visuelle Retrospektive die Zusammenhänge einer Allianz aus Erzähler, Geschichte und Zuschauer und sinniert über die multiplen Inkarnationen dieser Allianz und ihrer Verzahnung mit der brutalen Geschichte des 20. Jahrhunderts, an dessen Ende sich eben diese Konzepte aufzulösen begannen.


Lapauris und Tarielaschwilis selbstreflexiver Film ist eine Hommage und Kritik ihres eigenen Mediums zugleich. Die vielschichtige, musikalische Filmkomposition löst alle deterministischen Genregrenzen auf und verbindet wie in einem videographischen Stream-of-Consciousness, Geschichte im Singular mit den Geschichten im Plural, während wir immer im Zuschauersaal mit dem verschmitzten, intellektuellen Zentrum der ganzen Sache, Giwi Margwelaschwili selbst, bleiben, der uns heiter und optimistisch weiter von der Vergeblichkeit aller königlichen Bemühungen vorliest. „Zuschauerräume" ist als Anstoß zu verstehen, in der Zeit und dem Raum, die uns zur Hand liegen, zu handeln und zu denken, und Geschichte nicht als statische Abhandlung oder Chronologie von Ereignissen zu reproduzieren. 


Lapauri und Tarielaschwilis Begegnungen mit den Gespenstern der Geschichte ergeben kein abschließbares Bild. Sie regen uns dazu an, uns selbst mit ins Bild zu setzen, wenn wir über Geschichte nachdenken.
 

No comments: